Deutsch | English
CHRISTOPH M. LOOS

Denn das Paradies ist die Hölle ist das Paradies

Versuch einer Programmatik zum Projekt „Paradise Found“

Heutige Kunst bzw. heutiges Kunst-Bemühen – allzu oft ist es eben nur das – läuft Gefahr, an ihrer eigenen Angepasstheit und Harmlosigkeit regelrecht zu ersticken. Sie scheint sich überwiegend nicht zu schade zu sein, ein weit verbreitetes Interesse an Dekoration, Repräsentation und Unterhaltung zu bedienen. Demgemäss tun die mit ihr verbunden Protagonisten gut daran, die Kunst und das, was von ihr übrig geblieben ist, vor ihrer eigenen Seichtheit, Harmlosigkeit und Geschwätzigkeit zu bewahren.

Gute Kunst hat und hatte seit jeher etwas Subversives, Irrationales und Inkommensurables. Der fast in Vergessenheit geratene Schriftsteller Rudolf Borchardt – in den letzten Jahren von Botho Strauß etwas aus der Versenkung geholt – fasste es vor ca. 100 Jahren mit folgenden Worten zusammen: „Man kann sich an einem Menschen nicht schwerer vergehen, als indem man ihn glauben macht, es gäbe leichte Wege zum Schweren, oder, das Schwere sei eigentlich leicht, oder: das Inkommensurable lasse sich eigentlich doch irgendwie unter eine Mensura bringen.“[1]

Ein Kunstprojekt mit dem Titel „Paradise Found“ läuft nun ganz besonders Gefahr, in den angedeuteten Untiefen zu versinken. Verführen doch Titel und Thema unmittelbar dazu, sich von Harmoniesehnsüchten und Ganzheitsphantasien – zumal den eigenen – leiten und blenden zu lassen. Das „Found“ im Titel weicht zwar schon sehr bewusst einem nostalgisch-regressiven bzw. einem utopisch-eskapistischen Zugangsverständnis aus, indem die Gegenwärtigkeit einer Perspektivierung im Hier und Jetzt ausdrücklich betont wird.

Doch sich darauf einlassend, erhebt sich unmittelbar die Frage: Welche Relevanz hat der Paradiesmythos für gegenwärtiges Fragen, ohne sich dabei in der je und je eigenen Gefühlsduseligkeit und -seligkeit zu verlieren?

Die Erzählung vom Paradies ist eine Art Ursprungsmythos allen utopischen Denkens. Es ist vielleicht die erste große Erzählung überhaupt. In ihrer Signifikanz und Relevanz ist sie unserem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben – gleich, ob wir es gewärtigen oder nicht. Der Paradies-Traum und vielleicht mehr noch das Paradies-Vertreibungs-Trauma werden damit zum Initial, zum Agens und Movens jeglicher Utopieintentionalität. Jede Art Wünschbarkeit und Hoffnungshorizont scheint getränkt von zumindest unterschwellig präsenten Paradiesmetaphern – welcher Facon und Färbung auch immer.

Obwohl es gute Gründe geben mag, eine derartige mentalitätsgeschichtliche Linie zu zeichnen, so lässt sich doch im gleichen Atemzug beobachten und konstatieren: Die Paradies-Dimension spielt in einer ausdrücklichen Form im gesellschaftlichen Diskurs kaum noch eine Rolle, es sei denn in einer kommerziell-pervertierten Funktionalisierung. Damit ist ein rätselhaftes Paradox umschrieben: Die Paradiesmetapher oszilliert in einer eigentümlichen Weise zwischen einer annähernden Nullphänomenalität und einer weitestgehenden Hyperphänomenalität.

Sich mit diesem Paradoxon und diesen Fraglichkeiten zu konfrontieren, war Aufgabe und Inhalt des Kunstprojektes „Paradise Found“ der Hochschule für Gestaltung Offenbach.

Um einen kleinen Einblick zu geben, wie komplex die Paradiesthematik an sich sein kann, dürfte es aufschlussreich sein, Indizien, Referenzen und verwandten Kontexten nachzugehen. In diesem Sinne wird im Folgenden die hier zur Diskussion stehende Paradiesdimension in dreifacher Weise tangiert.

1. Kontext:

Anfang 2006 kam die palästinensisch-niederländische Filmproduktion „Paradise Now“ in die deutschen Kinos. Dieser Film – auf zahlreichen Festivals mehrfach ausgezeichnet – erzählt die Geschichte zweier junger palästinensischer Selbstmordattentäter, denen für ihre Tat der Eintritt ins „Paradies“ versprochen wurde. In beeindruckenden Szenen, die eine Vorstellung von den Voraussetzungen und Methoden für die Rekrutierung junger Männer als Selbstmordattentäter vermitteln, wird deutlich, wie Selbstmordattentate mit einem paradiesischen Verheißungshorizont als Mittel der Kriegführung inszeniert werden. Die Handlung basiert auf realen Begebenheiten, wie sie in bestimmten Weltgegenden tagtäglicher Ausdruck einer kriegerischen „ultima ratio“ sind – für abendländische Ohren wohl eher eine „ultima ratio irrationalis“. Wie dem auch sei, eine Vielzahl von Fragen drängen sich auf: Mutiert nicht – angesichts des eigenen Todes und des Todes zahlreicher Unschuldiger – eine solcherart gemeinte Paradies-Vision zu einer regelrechten Horror-Vision? Paradies und Hölle scheinen zu austauschbaren Größen werden zu können. Oder ist das dort versprochene vielleicht doch das einzig real existierende „Paradies“?

Wird nicht im Umgang mit absoluten Metaphern – in diesem Fall die Implikation paradiesischer bzw. utopischer Potentiale – beständig mit der Gefahr des Totalitären hantiert? „Versuche, Idyllen in Potenz zu erheben und zu leben“[2], können unversehens zu Kippfiguren, zu Perversionen ersten Ranges geraten.

2. Kontext:

Im April 2005 wurde in der Neuen Nationalgalerie in Berlin eine Kunstaktion bzw. Performance der zeitgenössischen amerikanischen Künstlerin Vanessa Beecroft gezeigt. Das Vernissagepublikum sah sich für drei Stunden in einer riesigen Halle mit einer Gruppe 100 nackter Frauen konfrontiert. Diese nur mit einer transparenten Strumpfhose bekleideten Frauen standen oder hockten nahezu regungslos im Raum, alle in die gleiche Richtung schauend. Mehr nicht. Ein sonderbares Exerzitium.

Doch was für ein Bild war diese gespenstische Szenerie, was mochte und konnte die Nacktheit der Nackten bedeuten? Der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der derzeit zu den meistdiskutierten europäischen Denkern gehört und der sicherlich über jeglichen Verdacht, er könnte zu pathetischer Verklärung neigen, erhaben ist, wagte angesichts dieser Performance eine geradezu hellsichtig anmutende These:

Nacktheit hat und konnte sich de facto in dieser Performance gar nicht ereignen. Wie nun könnte dies zu verstehen sein?

Zunächst konstatiert Agamben, dass laut Genesis Adam und Eva erst nach der Ursünde bemerkten, dass sie nackt waren. Aus Sicht der Theologie geschah dies allerdings nicht aus reiner Unwissenheit. Denn „im Paradies, vor dem Fall, waren sie, obgleich nicht von menschlicher Kleidung bedeckt, dennoch nicht nackt. Sie waren in ein Kleid der Gnade gehüllt, ein eng anliegendes Glorienkleid. Die Sünde beraubt den Menschen dieses natürlichen Kleides, und, nunmehr nackt, sieht sich dieser gezwungen, sich erst mit Feigenblättern und dann mit Tierhäuten zu bedecken. Das Kleid, mit dem er nun seinen Körper verhüllt, ist nicht mehr das Kleid der Gnade und der Unschuld, sondern das der Sünde und Heuchelei. Und dennoch gehört es ihm notwendigerweise an, denn es ist zugleich ein Andenken an das verlorene paradiesische Kleid und die Verheißung jenes neuen Kleides, das ihm mit der Erlösung zuteil wird.“[3]

Das heißt, aus Sicht der christlichen Theologie – und Agamben wähnt Beecrofts Performance in einer Art geheimer bzw. unbewusster Komplizenschaft zu dieser – ist menschliche Nacktheit, wenn überhaupt, nur vorläufig und damit negativ möglich.

Allerdings wird auch diese Deutung letztendlich wieder transformiert, indem Agamben fordert, dass es darum gehen sollte, eine adamitische Nacktheit wiederzufinden, bevor das Glorienkleid übergestreift wurde. Denn „einer gnostischen Parabel zufolge werden sich die Seligen am allerletzten Tag das Lichtkleid vom Leib reißen, in das Gott sie am Letzten gehüllt haben wird, und sich einander in ihrer Nacktheit zeigen, die weder Sünde noch Glorie kennt.[4]

3. Kontext:

Scheinbar geprägte Bilder, Klischees und Vorstellungen vom Paradies – und sicherlich nicht nur diese – sollten immer wieder befragt und hinterfragt werden. Ein irritierender und anregender Weg dazu kann die Auseinandersetzung mit Aphorismen Franz Kafkas sein, von denen sich eine Vielzahl zur Paradiesthematik in seinen nachgelassenen, sogenannten Oktavheften befindet. Folgender Aphorismus mag zunächst wie eine kärgliche Quisquilie erscheinen, enthält allerdings das Potential, abendländisch vermittelte Paradiesvorstellungen völlig neu zu denken. Zitat Kafka:

„Warum klagen wir wegen des Sündenfalles? Nicht seinetwegen sind wir aus dem Paradiese vertrieben worden, sondern wegen des Baumes des Lebens, damit wir nicht von ihm essen.“[5]

Kafka konstatiert kurz und trocken: Es ging gar nicht um den Baum der Erkenntnis. Es ging vielmehr um den Baum des Lebens. Nun könnte eingewendet werden, was denn daran so entscheidend sei, ob nun dieser oder jener Baum Anlass für die Vertreibung gewesen sei. Bei näherem Hinsehen wird deutlich, dass es sich dabei keineswegs nur um einen nominellen, sondern um einen ausgesprochen profunden Unterschied handelt.

Kafka sieht den Grund der Vertreibung nicht darin, dass Adam eine tatsächliche Schuld auf sich geladen hätte. Er hinterfragt vielmehr das Motiv für die Vertreibung, indem er als eigentlichen Grund den Genuss der Früchte vom Baum des Lebens und nicht der Erkenntnis angibt. Er hält den Vertreibungsgrund, den Regelbruch – bezüglich des Baumes der Erkenntnis – für fingiert, vorgeschoben und willkürlich gesetzt. Denn im Kern ging es um die Verhinderung der gottgleichen Ebenbürtigkeit – garantiert durch den Baum des Lebens. Gott wollte kein Gleicher unter Gleichen sein. Somit wird die Schuldfrage regelrecht abgeschafft bzw. auf den Kopf gestellt.

Nicht der Mensch hat Schuld auf sich geladen und dadurch das Paradies verloren, sondern Gott hat den Menschen „schuldig“ werden lassen, um ihm das Paradies zu nehmen und sich selbst die ungeteilte Unsterblichkeit zu bewahren. Die Frage der Schuld wird damit auf eine andere Ebene verlagert. Es geht nun nicht mehr darum, ob jemand der (noch) ohne Erkenntnis und damit ohne Wissen und ohne Unrechtsbewusstsein ist, überhaupt schuldig werden kann, sondern darum, dass die eigentliche Schuld bei einer anderen Instanz, nämlich bei Gott, liegt.

Paradieserzählungen, mithin auch der dazugehörige Mythos, erweisen sich damit nicht nur als ausgesprochen komplex, wie an den drei angedeuteten Kontexten versucht wurde zu zeigen, sondern letztlich und überdies auch als sperrig und nahezu unzugänglich. Fast ist man geneigt zu sagen: Aber genau darum geht es ja. Somit stellt sich – quasi als semantischer Zirkelschluss – wiederum die Frage nach einer Aktualität des Mythosbegriffes.

Einem heutigen Bewusstsein kann getrost ein degeneriertes Verhältnis zum Mythischen nachgesagt werden. Es ist sozusagen ein mit allen Wassern der Aufklärung gewaschenes Verhältnis. Wenn überhaupt noch, dann wird das Wort „Mythos“ umgangssprachlich zur Bezeichnung einer Illusion oder Fiktion verwandt. Es würde jedoch zu kurz greifen, Mythoserzählungen und -darstellungen als Gegengift und Kompensation zu den Unzulänglichkeiten einer durch und durch technischen, zweck-rationalen und entzauberten Welt verstehen zu wollen. Es geht um Grundsätzlicheres. Ursprünglich erfand der Mensch seine Mythen als Mittel in der Auseinandersetzung mit der für ihn unwirtlichen Natur. Zudem aber dienten sie dazu, die kommunikative Verfasstheit einer Gesellschaft aus einer höchsten Bedeutung zu begründen. Eine zwischen Menschen derart unumstrittene Bedeutung kann in einem radikalen Sinn nur das sein, was als heilig – d.h. unanfechtbar und allvermögend – gilt. Ob das heutzutage so noch möglich ist bzw. sich notwendigerweise individualisieren muss, steht auf einem anderen Blatt. In Mythen – und des Weiteren auch in Riten und in Kunstwerken – werden mittels eines nicht-diskursiven und dennoch sinnhaften Symbolmodus menschliche Vorstellungen, Bilder und Empfindungen gestaltet, die von der Sprache nicht oder nur unzulänglich ausgedrückt werden können. „Mythisches Darstellen – darin dem künstlerischem Tun strukturverwandt – erzeugt im Prozess, den es repräsentiert, die Bedingungen seiner Evidenz mit. Mythische Bilder erzeugen eine Wahrheit, die an sich selbst gemessen werden will. Die Überzeugungskraft und Wahr-scheinlichkeit ihrer Darlegung, die Kraft ihrer Bildlichkeit sind Medium und Garant ihrer Wahrheit.“[6] Mythen können verstanden werden als hochkomplexe Symbolisierungssysteme, die über metaphorische und erzählerisch-poetische Vermittlungen prozessiert werden können. Sie stellen damit Formen des Umgangs und der Selbstvergewisserung mit dem dar, was den Menschen in kontingenter und inkommensurabler Weise betrifft. Gerade im Bezug auf eine scheinbar un-mögliche Referenz liegt die subversive und kontestatorische, das heißt, die bestehende Gesellschaftsstrukturen infragestellende Kraft des Mythos, gerade eben auch die des Paradiesmythos. Der „Wirklichkeitssinn“ wird in Frage gestellt, um im „Möglichkeitssinn“ einer normativ-utopischen Kraft nachzuspüren. Die Konfrontation mit dem Paradiesphänomen birgt in sich das Potential – und darin liegt seine subtile Sprengkraft – als aktuale, produktiv-explorative Irritation wirksam werden zu können.

Prof. Christoph Loos (2.5.2007)


Fußnoten

  1. ^ Rudolf Borchardt: Das Gespräch über Formen und Platons Lysis, Stuttgart: Klett-Cotta, 1987, S. 27/28.
  2. ^ Dietmar Kamper: Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie, München: W. Fink Verlag, 1995, S. 74.
  3. ^ Giorgio Agamben: Das verlorene paradiesische Kleid, FAZ, 12.4.2005, S. 37.
  4. ^ Giorgio Agamben: Das verlorene paradiesische Kleid, FAZ, 12.4.2005, S. 37.
  5. ^ Franz Kafka: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß, Oktavheft G, Frankfurt: S. Fischer Verlag, 1994, S. 194Weitere Aphorismen aus dem Oktavheft G: „Wenn das, was im Paradies zerstört worden sein soll, zerstörbar war, dann war es nicht entscheidend; war es aber unzerstörbar, dann leben wir in einem falschen Glauben.“„Die Vertreibung aus dem Paradies ist in ihrem Hauptteil ewig: Es ist also zwar die Vertreibung aus dem Paradies endgültig, das Leben in der Welt unausweichlich, die Ewigkeit des Vorgangs aber macht es trotzdem möglich, dass wir nicht nur dauernd im Paradiese bleiben könnten, sondern tatsächlich dort dauernd sind, gleichgültig ob wir es hier wissen oder nicht.“
  6. ^ Gottfried Boehm: Mythos als bildnerischer Prozess, in Mythos und Moderne (Hrsg.: Karl Heinz Bohrer), Frankfurt: Suhrkamp Verlag, 1983